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Kooperatives Wildeshauser Familienverfahren

Neues Kooperatives Wildeshauser Familienverfahren

I. Ziel: Kindgerechte Justiz

Das neue kooperative Wildeshauser Familienverfahren knüpft an den Praxisleitfaden zur Anwendung kindgerechter Kriterien für das familiengerichtliche Verfahren[1] an, der von dem Nationalen Rat gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen im November 2022 entwickelt worden ist, sowie an das bisherige Kooperative Wildeshauser Familienverfahren.

Ziel ist es, die Rahmenbedingungen und Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass ein familiengerichtliches Verfahren kindgerecht und betroffenensensibel geführt wird. Wenn Kinder mit dem Familiengericht in Berührung kommen, müssen sie sich aufgrund des elterlichen Konflikts oder dem Vorliegen einer kindeswohlgefährdenden Situation zumeist mit einer für sie sehr belastenden Situation auseinandersetzten. Nicht selten ist von einer Traumatisierung der Kinder auszugehen. Es gilt daher, den Kindern in kindgerechter Weise zu begegnen und dafür Sorge zu tragen, dass sie in ihrer besonderen Situation im Rahmen des familiengerichtlichen Verfahrens Entlastung erfahren. Hierzu trägt die Anhörung der Kinder in kind- und altersgerechter Weise bei. Die Kinder sollen erleben, dass ihre Rechte beachtet und ihr Wille, ihre Wünsche und Bedürfnisse ernst genommen werden.

Die Eltern sollen in der Wahrnehmung ihrer elterlichen Verantwortung unterstützt werden. Daher wird im Verfahren versucht, die Selbstregulierungskräfte der Familie zu stärken und es der Familie zu ermöglichen, den aktuellen Konflikt und auch künftige Konflikte eigenständig zu bearbeiten und zu lösen. Konfliktverschärfendes Verhalten soll vermieden werden. Dabei steht immer das Kindeswohl im Zentrum des Verfahrens.

II. Beteiligte des Kindschaftsverfahrens

In den gerichtlichen Umgangs- oder Sorgerechtsverfahren sind die betroffenen Kinder immer Beteiligte. Minderjährige, die über 14 Jahre alt sind, sind dabei verfahrensfähig, d.h. sie können selbst Anträge stellen und erhalten auch die gerichtliche Entscheidung. Außerdem sind regelmäßig die Eltern und die Verfahrensbeiständin bzw. der Verfahrensbeistand beteiligt. Das Gericht kann auch weitere Personen, wie z.B. Sachverständige, Pflegeeltern oder Mitarbeiter*innen von Beratungsstellen anhören und zu einem Termin laden. An den Terminen in Kindschaftssachen nehmen auch die Mitarbeiter*innen des Jugendamtes teil.

III. Sachverhaltsermittlung vom Amts wegen am Maßstab des Kindeswohls

Die Sachverhaltsermittlung von Amts wegen wird maßgeblich in Art und Umfang durch das Kindeswohl bestimmt. Die Verfahrensgestaltung steht unter dem Primat des Kindeswohls und trägt zugleich auch den Rechten der Eltern Rechnung. Besonderes Augenmerk dient der Feststellung des Kinderwillens. Es soll eine zuverlässige Grundlage für eine am Kindeswohl orientierte Entscheidung gefunden werden. Bei der Sachverhaltsermittlung wird das Gericht insbesondere durch das Jugendamt und die Verfahrensbeistände unterstützt.

IV. Bestellung eines Verfahrensbeistandes/einer Verfahrensbeiständin

Zur Wahrung der Rechte der Kinder bestellt das Gericht nach Maßgabe der §§ 158 - 158 b FamFG frühzeitig eine Verfahrensbeiständin/einen Verfahrensbeistand. Diese/r nimmt Kontakt zu den Eltern, den Kindern, gegebenenfalls anderen Stellen, Behörden oder Angehörigen auf und bespricht die Angelegenheit insbesondere mit den Kindern nach Möglichkeit persönlich. Über die Ergebnisse wird ein schriftlicher Bericht gefertigt, der dem Gericht rechtzeitig vor dem Termin zur mündlichen Verhandlung übermittelt wird. Nach dem Termin zur mündlichen Verhandlung informiert die Verfahrensbeiständin bzw. der Verfahrensbeistand die Kinder über das Ergebnis umfassend und kindgerecht.

V. Das Jugendamt

Aufgabe des Jugendamtes ist es, Kinder, Jugendliche und ihre Eltern zu beraten und ihnen Angebote zur Unterstützung und Hilfe zu machen sowie den Schutz von Kindern und Jugendlichen sicherzustellen, wenn Eltern dieser Aufgabe nicht gerecht werden (können).

Das Jugendamt wird vom Familiengericht um Mitwirkung im gerichtlichen Verfahren gebeten oder regt selbst ein solches Verfahren an. In der Regel wird eine Fachkraft des Jugendamtes die Eltern und ggf. das Kind/die Kinder vor einem Gerichtstermin zu einem Gespräch einladen oder einen Hausbesuch durchführen. Dabei wird besprochen, um welches Problem es geht und welche Hilfe die Familie oder das Kind sich wünscht und benötigt, sowie die mögliche Umsetzung geklärt.

Insbesondere bei Verdachtsmomenten der Kindeswohlgefährdung nimmt das Jugendamt das Kind und seinen Schutz in den Blick. Kinder und Jugendliche, die Schutz und Hilfe benötigen, können sich auch selbständig oder über eine Vertrauensperson an das Jugendamt wenden.

Im familiengerichtlichen Verfahren informiert das Jugendamt das Gericht über die Lebensumstände und Bedarfe des Kindes sowie über angebotene und erbrachte Hilfen. Die Information erfolgt nach Möglichkeit mündlich im Gerichtstermin oder im Vorfeld über eine schriftliche Stellungnahme.

VI. Gehör im Verfahren

Das Gericht erörtert und bespricht die Angelegenheit mit allen Verfahrensbeteiligten nach Möglichkeit persönlich. Das Recht des Kindes auf rechtliches Gehör wird konsequent gewahrt. Die Anhörungen der Kinder findet nach Möglichkeit in einem gesonderten Termin in Anwesenheit der Verfahrensbeiständin/des Verfahrensbeistandes statt. Das Gericht führt die Anhörung grundsätzlich in Abwesenheit der Eltern und ihrer Bevollmächtigten oder anderer Personen durch. Über die Anhörung wird in der Regel ein Vermerk gefertigt, dessen Inhalt mit den Kindern besprochen werden soll. Der wesentliche Inhalt der Kindesanhörung wird den übrigen Verfahrensbeteiligten und dem Jugendamt bekannt gemacht.

VII. Kindgerechte Gestaltung der Anhörung

Es wird auf eine kindgerechte, altersangemessene Umgebung bei der Anhörung des Kindes geachtet. Die Anhörung des Kindes findet in Anwesenheit des Verfahrensbeistandes statt. Dem Kind wird mit Empathie und Respekt begegnet. Der Verfahrensgegenstand wird altersangemessen erklärt. Der Wille des Kindes wird erfragt und ernst genommen.

VIII. Beschleunigungsgebot

Das kindliche Zeitempfinden wird beachtet. Kinder haben ein anderes Zeitempfinden als Erwachsene. Diesen Unterschieden wird im familiengerichtlichen Verfahren Rechnung getragen. Das Vorrang- und Beschleunigungsgebot des § 155 Abs. 1 FamFG gewährleistet, dass Termine zügig durchgeführt werden. Bei länger dauernden Verfahren werden die Kinder durch die Verfahrensbeistände erforderlichenfalls zwischendurch informiert.

IX. Psychologische Beratungsstelle

In geeigneten Fällen empfiehlt das Gericht den Eltern die Beratung bei der psychologischen Beratungsstelle. Dies wird im Termin zur mündlichen Verhandlung erörtert. Sofern die Eltern hierzu freiwillig ihre schriftliche Zustimmung erklären, übermittelt das Gericht die Zustimmungserklärung an die Psychologische Beratungsstelle. Das gerichtliche Verhandlungsprotokoll wird mit Zustimmung der Beteiligten ebenfalls übermittelt. Die Akten oder weitere Unterlagen werden nicht übersandt. Die Eltern melden sich selbstständig bei der psychologischen Beratungsstelle an. Die Termine werden von dort vergeben. Der Inhalt der dort geführten Gespräche unterliegt der Vertraulichkeit. Das Gericht, das Jugendamt oder die Verfahrensbeistände erhalten hierüber grundsätzlich keine Informationen. Es wird auf Anfrage des Gerichts lediglich mitgeteilt, ob eine Beratung stattgefunden hat oder ob sich die Eltern nicht gemeldet haben.

X. Sachverständigengutachten

Kommt eine weitere Ermittlung durch die Einholung eines Sachverständigengutachtens in Betracht, wird das Gericht umgehend eine/n geeignete/n Sachverständige/n kontaktieren. Die Beteiligten erhalten rechtliches Gehör. Im Termin wird erörtert, ob bis zum Verfahrensabschluss zu dem Verfahrensgegenstand eine Übergangseinigung erzielt werden kann oder ob gerichtliche Maßnahmen (einstweilige Anordnung) erforderlich sind.

XI. Interdisziplinäre Vernetzung

Es finden regelmäßige Austauschtreffen zwischen dem Familiengericht und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Jugendamtes statt. Im Rahmen des Neuen kooperativen Wildeshauser Familienverfahrens wird ein interdisziplinäres Netzwerk gepflegt. Zu den Mitgliedern des Netzwerkes zählen neben den Familienrichterinnen und -richtern des Amtsgerichts Wildeshausen bezirksansässige Rechtsanwälte und Rechtsanwältinnen, Verfahrensbeiständinnen und Verfahrensbeistände, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Jugendamtes und der psychologischen Beratungsstelle sowie Sachverständige.

XII. Qualifikation

Regelmäßige Fortbildungen zu familienspezifischen Themen aller am familiengerichtlichen Verfahren beteiligten Professionen sichert einen hohen Qualitätsstandard.



[1] Praxisleitfaden zur Anwendung kindgerechter Kriterien für das familiengerichtliche Verfahren, Empfehlung von kinderrechtsbasierten Standards in Kindschaftsachen; herausgegeben vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend in Zusammenarbeit mit dem unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs.


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